von Dilek Tepeli und Jürgen Straub (RUB)
Am 30.06.23 trafen sich die LoKoNet Verbundpartner Dilek Tepeli, Jürgen Straub (beide Ruhr-Universität Bochum) und Ornella Gessler (Kommunale Konfliktberatung Salzwedel) mit dem Praxispartner Robert Montau (Mediator, EBZ Akademie) für eine transdisziplinäre Interpretationssitzung. Gemeinsam interpretierten sie einen Beschwerdebrief aus einem Anfang der 1990er Jahre begonnenen, über zehn Jahre währenden Nachbarschaftskonflikt in einer Kleinstadt bei Hannover. Robert Montau selbst vermittelte in diesem Fall als Konfliktmediator und gab uns wichtiges Kontextwissen aus der Praxis, um die Genese und den Verlauf des Konflikts einordnen zu können. Das genossenschaftliche Wohnungsunternehmen hatte ihn damals zur Mediation hinzugezogen, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln.
Der von uns in diesem Interpretationsworkshop analysierte Brief ist Teil einer Reihe mehrerer Anschreiben verschiedener am Konflikt beteiligter Akteur:innen und stammte von den alteingesessenen Senior:innen aus der Nachbarschaft. Diese taten sich schwer damit die neuhinzugezogenen Familien und das Fußballspielen der Kinder zu akzeptieren, da es ihre altbewährte und vertraute Ordnung, Regeln und Ruhe bedrohte. In unserer partizipativen Interpretationsgruppe begannen wir damit den Brief sequentiell einer hermeneutischen Analyse zu unterziehen. Unsere Perspektivenvielfalt und verschiedenen Blickwinkel wie die der Mediation, der kommunalen Konfliktberatung und der Wissenschaft integrierten wir produktiv miteinander und kamen so zu sehr interessanten Lesarten des Briefs. Unsere methodische Vorgehensweise folgte regelgeleitet der rekonstruktiven, relationalen Hermeneutik nach Jürgen Straub.
Im ersten Schritt beschrieben wir in sogenannten formulierenden Interpretationen zunächst Formalia wie den Betreff, die Anschrift und Adressierung des Briefes. In der vergleichenden Interpretation verließen wir die sprachlichen Wendungen und Rahmungen des Briefs und analysierten rhetorische Stilmittel, die von der Beschwerde führenden Partei angeführt wurden, um ihre eigene Position zu plausibilisieren und von der dritten Partei (der Wohnungsgesellschaft) Unterstützung in der Ausräumung der empfundenen Störung zu erhalten. In dieser rekonstruktiven Interpretationsmethode werden im Detail die (Pragma-)Semantik, verwendete Sprachspiele und Metaphern im Brief einer Feinanalyse unterzogen und interpretiert, um z.B. emotionale und affektive Dimensionen des Konflikts zu rekonstruieren und die Rolle von (unbewussten) Affekten in der Konfliktdynamik erfassen zu können. Dass beispielsweise der Begriff des „Terrors“ zur Beschreibung und Qualifizierung der Kinder und ihres Spielens genutzt wurde, unterstellt diesen eine bösartige Absicht die Ruhe und Ordnung innerhalb der Nachbarschaft zu stören. In der Interpretationsgruppe entwickelte sich zunehmend eine von allen Beteiligten geteilte, psychoanalytische Lesart, die das Verhalten der Senior:innen und ihre Gefühle auf den Verlust ihrer Lebenskräfte und Vitalität nahelegte. Innere Prozesse und Konflikte projizierten sich somit auf die äußere „Realität“ und mussten als integraler Bestandteil der Konfliktdynamik aufgefasst werden. Die Kinder und ihr Spiel gerieten so zum Symbol für den womöglich schwer zu akzeptierenden Verlust der eigenen Jugend, Beweglichkeit und Lebendigkeit im Prozess des stetigen Alterns und Vergehens.
Wir können daraus ableiten, dass (psycho)soziale Konflikte häufig von inneren Krisen und Konflikten überblendet sind und die Konfliktdynamik durch diese inneren Vorgänge angetrieben, befeuert und befestigt werden können. Der Workshop wurde von allen Beteiligten als wertvoll für die eigene professionelle Arbeit beschrieben, da durch die Verbindung multiperspektivischer Interpretationen interessante Lesarten entwickelt und innerhalb der diversen Interpretationsgruppe validiert werden konnten.