von Jörg Hüttermann (Institut für konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld)
Jörg Hüttermann hielt am 25. August 2024 in der Alten Brotfabrik in Duisburg einen Einführungsvortrag zur Ausstellung „Last Generation“ der Medienkünstlerin Ruth Bamberg. Hierin befasst er sich mit Konvergenzen kritischer Zeitdiagnosen in der Soziologie und der Bildenden Kunst und skizziert eine Form der kreativen Intervention in (stadt-)gesellschaftliche Entwicklungen, die Begriffe wie „Krise“, „Multiple Krise“ oder „Zeitenwende“ kreativ reflektiert und zum Staunen einlädt. Die Ausstellung selbst versteht sich als eine solche Form der Intervention. Den Vortrag mit dem Titel „Intervenio ergo sum“ können Sie hier nachlesen.
Alles Sein ist ein Werden. Nichts, was ist, ist uns statisch gegeben. Alles ist, weil es einem Wandel unterworfen ist. Dies ist eine Grundeinsicht, die Kunst, Wissenschaft und Philosophie miteinander verbindet. Es gibt allerdings Momente im gesellschaftlichen Wandel oder z. B. auch Momente in unserer Biographie, die wir nicht bloß als allmählichen Wandel beschreiben, sondern als Krise.
Der Gebrauch des Krisenbegriffs scheint in unserer Zeit exponentiell zuzunehmen. Und dies nicht allein deshalb, weil wir uns daran gewöhnt haben, den Begriff „Krise“ an beinahe jedes Thema zu heften, das uns bewegt: Wir sprechen von Wirtschaftskrisen, Lebenskrisen, Krisen der Moderne, Gesundheitskrisen, Gesellschaftskrisen, Psychokrisen oder eben der Krise der Kunst.
I. Warum ist so viel von Krisen die Rede?
1. Der Krisenbegriff alarmiert. Er erfüllt die Funktion der Aufmerksamkeitsverstärkung und fordert Gefolgschaft. Im 19. und 20. Jahrhundert haben konservative und progressive politische Avantgardist:innen sowie akademische Expertenkreise den Krisenbegriff stark gemacht. Doch im Zuge des globalen internetbasierten Aufstands der Laien und Wutbürger gegen etablierte Experten-Eliten ist der Krisenbegriff zu einer Art Jedermannsbegriff geworden. Er rahmt selbst banalste Ereignisse so, dass sie uns als Kristallisationsereignisse erscheinen, die alles um sich herum neu ausrichten. Doch ein gewisser Abnutzungseffekt der Krisensemantik ist inzwischen unübersehbar. Ob der aktuelle Begriff der multiplen Krise – quasi die „Mutter aller Krisen“ – den Effekt der Aufmerksamkeitsverstärkung wahren kann, bezweifle ich. Es ist bloß mehr vom Gleichen.
2. Der Krisenbegriff befriedigt unsere Untergangslust: Wenn mich jemand verletzt, muss ich „Aua“ Schreien und wütend werden dürfen! Wenn mich jemand existenziell bedroht, dann darf ich mich selbstverständlich wehren und „Alarm machen“. Doch darum geht es aktuelle hierzulande immer seltener. Ähnlich wie der Chaos- oder der Trauma-Begriff, dient der Krisenbegriff vielmehr auch dazu, die Lust am Ausleben dessen zu befriedigen, was unsere angelsächsischen Beobachter „German Angst“ nennen. German Angst, dass ist die zu unserer Leitkultur avancierte Lust, das Grauen vor dem eigenen Untergang zu füttern und zu genießen. Wir finden diese German Angst in der Literatur, in der deutschen Philosophie, in der Politik, in der deutschen Neigung sich überzuversichern aber eben auch in der Kunst (Anselm Kiefer). Auf diese Weise gewinnen wir wenigstens ein Stück weit die Initiative zurück.
Dabei ist der Krisenbegriff, von seinem griechischen Ursprung her, gar nicht so lustvoll angstbesetzt, wie er hierzulande verstanden wird. Ursprünglich bezeichnete der Krisenbegriff einen als bedrohlich und unüberschaubar erscheinenden Moment in einer Konfliktsituation, deren Zuspitzung uns nurmehr möglichst wenige Handlungsoptionen übrig lässt. Und dann muss eben zwischen diesen wenigen Optionen entschieden werden. Angriff oder Verteidigung, Kampf oder Flucht, Rechts oder Links. Mit anderen Worten: Bei seinen Schöpfern hatte der Krisenbegriff nicht nur eine Alarmfunktion, sondern immer auch etwas Vereinfachendes, etwas Entlastendes, etwas Pragmatisches und auch etwas Zuversichtliches. Denn er markierte den Übergang von Orientierungslosigkeit zur Problemlösung.
In unseren Tagen ist der Krisenbegriff aber auf seine Alarmfunktion reduziert und eben dadurch zu einer bloß stumpfen Waffe worden.
An seine Stelle tritt aktuell der Begriff der Zeitenwende. Auch der Begriff der Zeitenwende verweist auf sozialen Wandel. Und auch die beschworene Zeitenwende hebt sich vom allmählich beiläufigen Wandel allen Seins ab, indem sie auf einen klar markierten Wendepunkt auf einen Kontinuitätsbruch verweist. In der berühmt gewordenen Kanzlerrede ist dieser Wendepunkt auf einen Zeitpunkt eingegrenzt, den 24. Februar 2022, dem Tag des militärischen Überfalls Russlands auf die Ukraine.
Der Begriff der Zeitenwende ist vielleicht noch radikaler als der der Krise. Denn bekanntlich ist alles was ist, in der Zeit. Es gibt kein Außerhalb, keinen Rest, keine Zuflucht, keine Insel, die unberührt bliebe. Wenn Zeitenwende ist, ist Zeitenwende alles und alles ist Zeitenwende. Das einzig denkbare Außerhalb der Zeitenwende ist der Tod.
Radikal ist der Begriff auch, wenn man in ihn die historisch vorausgehenden Begriffe und Konnotationen mit einbezieht: „Schicksalswende“ und „Entscheidungskampf“. Denn solche Begriffe bewegen sich im historisch-semantischen Feld des deutschen Militarismus und blähten sich in der Vernichtungsrhetorik des Nationalsozialismus auf. Radikal ist der Begriff schließlich auch deshalb, weil er, anders als der Krisenbegriff, nur eine Handlungsanweisung enthält – nämlich: „Folgt mir!“
II. Bamberg: Künstlerin des Staunens und der Sorge
Muss man sich aber auf solche Begriffe und die mit ihnen wuchernden, inflationierenden, sich selbst entwertenden Narrative einlassen? Muss man den Omnipotenzanspruch der politischen „Zeitenwende“ akzeptieren? Gibt es zu ihnen keine Alternativen? Finden sich denn keine funktionale Äquivalente, die weniger heroisch daherkommen und uns für Probleme des Wandels sensibilisieren?
Ich denke schon! Wir finden Alternativen in der Kunst. Mein Vorschlag wäre es, mit Ruth Bamberg bzw. bei Betrachtung ihres Werkes Krisenhysterie und Zeitenwendetaumel hinter sich zu lassen und sich den Begriffen „Staunen“ und der „Sorge“ zuzuwenden. Denn meines Erachtens sind dies die beiden Begriffe, um die sich Bambergs Werk dreht. Staunen und Sorge. Ruth Bamberg ist im besten Sinne des Wortes eine Künstlerin des Staunens und der Sorge.
Sie thematisiert zwar die Krise, aber nicht, um mit den Wölfen des Krisen-Alarmismus zu heulen, sondern um uns zum Staunen und zum Sorgen einzuladen.
Staunen: Neurobiologen definieren Staunen als einen inneren Unruhezustand, der sich motivationsfördernd auswirkt. Und Philosophen staunen, wenn sie die Welt des Selbstverständlichen hinterfragen, um die dahinter liegenden Mechanismen und Bewegungsprinzipien zu erschließen. In beiden Disziplinen erfüllt das Staunen also die Funktion eines produktiven Anfangs, von dem aus wir die Welt erschließen und in sie eingreifen, intervenieren. – In Gesprächen mit Ruth Bamberg ist mir deutlich geworden, dass beide Definitionen auch auf ihre künstlerisch-staunende Haltung zur sozialen Welt zutreffen.
Wenn sie mit Freunden und mit mir über aktuelle soziale Veränderungen spricht, vermittelt sie den Eindruck geradezu körperlicher, zitternder innerer Unruhe – einer Unruhe, die sie selbst kaum zurückhalten kann und die sie zu immer neuen Einsichten und Fragen treibt.
Ich persönlich mag es sehr, wenn Ruth in geselliger Runde oder unter Kollegen, immer wieder in unschuldig daherkommender, aber sehr engagierter Form fragt: „Darf ich jetzt (endlich) auch mal etwas sagen?“ während allen Anwesenden längst klar ist, dass Bamberg das Gespräch viel zu lange dominiert hat.
Bambergs produktives Staunen spiegelt sich nicht zuletzt in den Blicken und in der Haltung des unschuldigen, engelsgleichen Jünglings wider, der sich durch ihre Fotolandschaften bewegt.
Doch, wie gesagt, Bamberg staunt nicht nur, sie sorgt sich auch. Das besondere ihrer Art zu sorgen ist: Ihre Sorge kommt aus ihrem Staunen.
Man versteht das, wenn man Bambergs durch Staunen hervorgebrachte und von Staunen begleitetes Sorgen mit anderen Formen der Sorge vergleicht.
Bambergs Form der Sorge ist gerade kein Sorgen, das aus pathologischen Ängsten hervorgeht. Bambergs künstlerische Sorge folgt gerade keinem feigen Fluchtimpuls. Ihre Art der Sorge ist gerade kein panisches Erschrecken und erst recht keine naive Form der Für-Sorge. Es ist vielmehr ein nachdenkliches Sorgen-um, mit dem sie dazu einlädt, inne zu halten, sich Zeit zu nehmen. Diese Form der Sorge bringt uns dazu, das Selbstverständliche zunächst einmal mit anderen Augen zu betrachten – nämlich mit staunenden Augen, die für das Andere, das Kommende offen sind.
Nicht mit ehrfurchtsvoll gesenktem Blick sollen wir staunen, sondern mit einem offenen Blick auf Augenhöhe. Dann können wir vielleicht ein Stück weit den Erregungszustand der Künstlerin nachvollziehen, wenn sie uns mit ihrer Ausstellung zum Staunen einlädt.
III. Ruth Bamberg die Interventionskünstlerin
Damit erfüllt Bambergs Kunst eine Grundfunktion der Intervention. Denn Intervention, bedeutet: Dazwischen-kommen, bzw. Dazwischen-gehen. Es bedeutet Unterbrechen, Innehalten. Intervention fordert zur Neuorientierung auf. Sie will Neuorientieren geradezu erzwingen.
Bamberg erzwingt Neuorientierung aber nicht mit der Brechstange des Alarmismus, sondern mit künstlerischen Techniken der Verfremdung und der Befremdung.
Diese Sorge hat nichts Heroisches, sie will keine Schicksalswende herbeiführen. Sie ist vielmehr ein höchst verantwortungsvolles ethisches Sorgen, das das Heroische gerade vermeidet. Bambergs Sorge ist ein staunendes Sorgen.
Worum sorgt sich Bamberg eigentlich?
Bamberg sorgt sich einerseits, wie wir alle sehen können, um die Last Generation. Das heißt Bamberg sorgt sich um eine Generation, die zumindest in Teilen dem Krisen-Alarmismus verfallen ist und sich von den politischen Erfahrungen vergangener Generationen abschirmt. So etwa mit dem moralischen Argument, dass diese zum Klimawandel beigetragen habe.
Ruth Bamberg geht davon aus, dass die Letzte Generation von der Second Last Generation (Friedens- und Umweltbewegung der 80iger Jahre) und der Third-Last Generation, die gegen das Verdrängen der Täter-Generation aufstand, lernen kann. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die Letzte Geberation sich verrennt und letztlich ihrem eigenen Anliegen schadet.
Bambergs Sorge gilt aber andererseits auch den Generationen davor, die, so ihre Befürchtung, ihre wertvollen Erfahrungen nicht mehr an die vermeintlich letzte Generation weitergeben können und wollen.
Somit zielt sie auf eine Kommunikationsblockade, zu deren Lösung sie mit ihren künstlerischen Mitteln und nicht zuletzt auch mit dieser Ausstellung beitragen will.
IV. Ruth Bamberg und Cyrus Overbeck, zusammen in einer Ausstellung?
Zwei völlig unterschiedliche Formen der künstlerischen Intervention an einem Ort? Das ist erklärungsbedürftig.
A) Hier der deutsch-persisch-jüdische Künstler, offensiv-kämpferisch, der sich sein Thema, seinen Kampf gegen nationalsozialistische Kontinuitäten nicht ausgesucht hat, sondern umgekehrt, der durch sein Thema ausgesucht wurde. Er wurde zur Zielscheibe neonazistischer und islamistischer Bewegungen, zur Zielscheibe ihrer Morddrohungen und zum Teil gewaltförmigen Übergriffe.
Es findet sich kein Emile Zola, der sich für ihn einsetzt. So kämpft er als Künstler zuallererst in erster Reihe für sich selbst, fürs eigene Überleben und für andere bedrohte Minderheiten. Es ist der paradoxe Mut der Verzweiflung, der ihn dazu antreibt, über sich hinauszugehen, um Bären zu beißen.
B) Und da, auf der anderen Seite, die staunend-sorgend und vergleichsweise subtil-irritierend intervenierende Medienkünstlerin Ruth Bamberg, von der hier die Rede ist.
Besteht zwischen den beiden Künstler:innen eine Beziehung des Widerspruchs, des Konflikts? Oder handelt es sich um ein Ergänzungsverhältnis? Hat die Eine etwas, was der Andere sich wünscht? Oder umgekehrt? Oder beides?
Dies sind für mich offene Fragen. Vielleicht finden Sie bei Betrachtung der Ausstellung eine Antwort auf dieses Rätsel, das ich ihnen hiermit mitgebe.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!